Sie hatten drei Kabinen unter Deck bezogen. Dass Benjamin plötzlich an Bord auftauchte und nachher mit Iwan eine vierte Person da war, nahmen Pawlow und seine Männer stirnrunzelnd zur Kenntnis. Es war ihnen anzusehen, dass ihnen die Sache mehr und mehr ungeheuer wurde.
Marjeka schmuggelten sie in eine der Kabinen, wo sie an einen Stuhl gebunden und geknebelt saß. Alle paar Stunden gesellte sich jemand zu ihr, band sie los, gab ihr zu essen und zu trinken und leistete ihr Gesellschaft. Ihre Notdurft musste sie in einen Eimer verrichten. Es schien, als akzeptierte sie ihre Lage. Aber Igor wettete darauf, dass sie nur auf eine Gelegenheit zur Flucht wartete und sie alle enorm auf der Hut sein mussten.
Mit den Leichensäcken war das auch so eine Sache. Wenn man im Laderaum stand, konnte man schon ein wenig den Verwesungsgestank riechen. Und aus der Holzkiste, in welcher sie sich befanden, sickerte ein wenig faulige Flüssigkeit. Sie handelten in der dritten Nacht auf See. Es gab einen kleinen Bereich der Reling in der Schiffsmitte, welcher von der Kommandobrücke aus nicht einsehbar war. Kurz nach Mitternacht öffneten Benjamin, Igor und Iwan die Kiste und nahmen mit behandschuhten Händen den ersten Leichensack, schleppten ihn an Deck, beschwerten ihn mit Metallteilen und warfen ihn über die Reling. Der Zweite folgte kurz darauf. Anschließend wurde mit Putzfetzen und viel Meerwasser alles gesäubert. Tulcinea weilte währenddessen beim diensthabenden Matrosen auf der Brücke und passte auf, dass nichts bemerkt wurde.
Die Montenaken fuhr zwei Tage und zwei Nächte mit Kurs Nordost, entlang der Kamtschatka Route, bog dann jedoch Richtung Alaska ab. Die Besatzung ließ man glauben, dass das Ziel der Reise eine kleine Bucht im Süden der Kodiakinsel sei.
Der wahre Plan war jedoch, die Besatzung mitten auf der See mit dem Rettungsboot auszusetzen und die Fahrt danach alleine fortzusetzen.
Iwan war ein halber Seemann, Benjamin konnte navigieren und Igor war in der Woche, die sie gemeinsam fuhren so oft wie möglich mit dabei im Maschinenraum, um die Eigenheiten des Schiffes kennenzulernen. Seine Rolle war die des Maschinisten für die Zeit nach der ‚Trennung‘.
„Pawlow, wir danken dir nochmals dafür, dass du uns so weit gebracht hast. Hier trennen sich unsere Wege, aber das Rettungsboot ist sicher und ihr werdet garantiert im Laufe der nächsten zwei Wochen entdeckt. Falls dem nicht so ist, versprechen wir dir, dass wir spätestens dann der Küstenwache Bescheid geben, um euch zu suchen. Ihr habt Lebensmittel für vier Wochen. Wir wünschen euch eine gute Reise und alles Gute für die Zukunft!“
Tulcinea war keine begnadete Rednerin. Ein paar Selbstverständlichkeiten aneinanderzureihen, die vorher schon ausgemacht waren, beeindrucken niemanden zu Tränen, überlegte Igor.
Pawlow stieg als letzter von den vier originalen Besatzungsmitgliedern der Montenaken die Strickleiter runter in das große Rettungsboot. Seine Leute saßen bereits in dem randvoll gefüllten Rettungsboot, das auch starken Stürmen widerstehen konnte. Neben herkömmlichen Wasser- und Essensvorräten hatten sie auch große Mengen Sekt, Kaviar und andere Köstlichkeiten, welche Igor vor der Abfahrt organisiert hatte als Trostspender an Bord bekommen. Einzig das Funkgerät wurde unbrauchbar gemacht. Nur eine Leuchtpistole gestand man ihnen zu. Man hoffte auch, dass sie nicht zu früh gefunden wurden, um eine Verfolgung zu erschweren.
Was Igor nicht verstand, war die Entschädigung, welche Tulcinea Pawlow für das verlorene Schiff zukommen ließ: einen kleinen Sack voll Diamanten und Edelsteine sowie eine Schatulle voller Goldmünzen. Dafür konnte man sich eine kleine Fischereiflotte kaufen. Und die Matrosen bekamen auch jeweils einige Goldmünzen.
„Solltet ihr es schaffen ‚unauffällig‘ entdeckt zu werden, wird niemand Fragen stellen bezüglich der Edelsteine und Goldmünzen“ setzte Tulcinea fort. „Wenn ihr das alles selber ausgeben wollt, dann lasst euch von jemand privaten entdecken und behaltet euer Geheimnis für euch. Es wäre ja schade um das schöne Leben, das ihr dann führen könntet.“ Lächelnd löste Tulcinea die Leine und warf Pawlow noch ein Jagdgewehr zu „Für alle Fälle und gute Fahrt.“
Die 4 schauten ihrem Fischkutter nach, wie er Richtung Osten tuckerte. Als man etwa einen Kilometer auseinander war, sah man Pawlow winken. Igor winkte zurück.
„Die werden einen Bogen um jedes Patrouillenboot machen und versuchen Kumpels von ihnen zu finden. Tulcinea, das war sehr fair und ausgesprochen klug, sie derart großzügig zu entlohnen.“ Iwan sagte das mit langsamen bedachten Worten.
„Knausern wäre hier fehl am Platz. Außerdem sind wir Sammler und keine Diebe“ sprach sie auf Igor blickend. „Das einzige, was mich bedrückt sind die beiden Toten. Aber in der gleichen Situation würde ich es wieder so machen. Sie gaben mir keine Alternative.“
Stundenweise durfte Marjeka nun an Bord gehen und die Seeluft atmen. Sie war durch die lange Betäubung und die vielen Stunden, welche sie gefesselt auf dem Stuhl verbringen musste, sehr geschwächt. Schön langsam begann sie sich zu erholen.
Die Montenaken änderte derweil ihren Kurs und steuerte nun nach Nordwesten, dem nördlichen Eismeer zu.

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