ANA1-7 Karaoke singen

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

So gegen 22:00 erschien Igor in der Karaoke Bar. Iwan und Tulcinea hatten bereits an einem Tisch Platz genommen. Diesen Abend waren sie aber ohne Begleitung. Wie er die Beiden so sitzen sah, konnte er sich den Gedanken nicht verkneifen, dass sie doch ein gutes Paar abgäben. Vielleicht war sein ursprünglicher Auftrag doch noch aktuell?
Er grüßte förmlich und setzte sich wortkarg zu ihnen an den Tisch.
„Hast du dir schon Gedanken gemacht was du heute singen wirst?“, fragte ihn Tulcinea. Und Iwan, der Igors skeptischen Blick richtig deutete, fügte spöttisch lächelnd hinzu „Hier müssen immer alle singen.“
„Wenn dann nur die russische Hymne. Und ihr werdet schon sehen was das hier für Folgen hätte“ entgegnete Igor bissiger als beabsichtigt.
„Wir haben auf einem Flohmarkt einen getürkten Würfel erstanden. Die Sechs kommt etwa doppelt so oft, als es sein sollte, das haben wir durch Ausprobieren ermittelt“ klärte Iwan auf.
„Jeder würfelt. Wer eine sechs hat, singt. Gibt es zwei Sechsen, wird es ein Doppel. Wer eine eins würfelt bestellt eine Flasche Wodka mit Beilagen. Los geht’s!“ Mit diesen Worten nahm Iwan den Würfel von der linken in die rechte Hand und ließ den Würfel energisch über den Tisch rollen. Er hatte eine Sechs. Igor bekam Herzklopfen und würfelte eine Drei. Tulcinea eine Zwei.
„Na, dann halt nur eine erste Runde Hemingways für uns alle und ein Gläschen Wodka zusätzlich für Iwan“ stellte Tulcinea fest. Sie sah die Nähe zur Eins als Aufforderung eine Runde zu ordern.
Iwan musste auf die Bühne und entschloss sich auf eine Zufallsauswahl beim Lied. ‚Chasing cars‘ von Snow Patrol wurde es. Selber Schuld dachte Igor, der das Lied als sehr schwierig empfand. Und tatsächlich war Iwans grölende Stimme wenig geeignet den melancholischen Grundton des Liedes ausreichend wiederzugeben. Das an diesem Abend überraschend zahlreiche Publikum gab alsdann auch nur spärlich Applaus. Iwan trank, an den Tisch zurückkommend, das inzwischen von der diensteifrigen Bedienung gelieferte Gläschen Wodka mit einem Zug aus und sah dann wieder etwas zufriedener aus. Überraschenderweise hatte er sogar eine gewisse Röte im Gesicht, welche von Scham zeugen könnte, dachte Igor.
Der Abend wurde unerwartet fröhlich. Es wurde eigentlich nur gescherzt und immer wieder musste jemand von den Dreien auf die Bühne und ein Lied zum Besten geben. Igor verzichtete auf die russische Hymne und probierte sich stattdessen an einem ‚alten Schmachtfetzen‘ von Dr. Alban und sang ‚Sing Halleluja‘. Tulcinea folgte mit ‚Halleluja‘ von Leonard Cohen. Einzig als Iwan von Nick Cave ‚Jubilee Street‘ von sich gab, wurde die blonde Schönheit sehr still und Igor schien Trauer in ihrem Gesicht zu erkennen. Als sie Igors beobachtenden, fragenden Blick auf sich fühlte, wandte sie sich zuerst leicht ab und sagte dann wieder ihm zugewandt „Graf Eisens Lieblingslied, bevor er… naja, uns verließ, könnte man wohl sagen“. Sie lachte etwas unecht auf und trank den vor ihr am Tisch stehenden B52 aus, hob danach energisch den Kopf und fixierte bis zum Ende des Liedes Iwan, den Sänger, dem Nick Caves Bass wirklich gut lag.
„Viktor, oder soll ich besser Igor sagen? Du bist kein Kaufmann und wir glauben du hast nicht viel in Mariupol zu tun, wenn wir weg sind. Stimmt‘s?“
Igor zuckte wie elektrisiert aus einem Dämmerzustand auf, der sich durch die vielen Cocktails und die angenehme Stimmung dieses Abends schwer auf ihn gelegt und ihn träge gemacht hatte. Tulcineas freundliche aber feste Stimme, die so klar wie der Inhalt der Worte war, fühlte sich an, als würde ihm jemand die Gurgel durchschneiden. Er röchelte und prustete dann los, weil er einen Kloß im Hals hatte und er kurz zu ersticken glaubte. „Warum sollte ich…“
„Ach Igor, ehrlich gesagt ist es uns egal, wer du bist und was du so machst. Es ist nur so, dass wir große Sympathien für dich hegen und uns gefragt haben, ob du eine Weile mit uns reisen möchtest.“
Igor kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Da wurde er zum Teil enttarnt und bekam gleichzeitig ein Angebot, mit dem er nun überhaupt nicht gerechnet hatte. Normalerweise wird ein Schnüffler, wenn er aufgedeckt wird, verprügelt, oder man geht ihm zumindest aus dem Weg. Tulcinea und Iwan gingen den ungewöhnlichen Weg, ihm ein Angebot zu machen. Er, Igor, solle mit Ihnen über Luhansk, Wolgograd, Astana, nach Uralsk fahren. Sie bräuchten einen neuen Fahrer. Jemanden, der sich in Russland auskannte und „belastbar“ sei. Bezahlt werden würde in Euro. 2.000 für jeden Tag. Bar auf die Hand.
Am nächsten Tag gab Igor das Mietauto ab und setzte sich ans Lenkrad des bulligen Lasters. Tulcinea saß am Beifahrersitz, Iwan und Benno auf der Rückbank. Benno musterte Igor durch den Innenspiegel abschätzend. Der Motor des Lasters sprang aufs zweite Mal an, Igor gab Gas, ließ die Kupplung kommen und fuhr stark ruckelnd los. Aus den Augenwinkeln glaubte er zu erkennen, dass Tulcinea die Augenbrauen zu seinem Manöver leicht missbilligend nach oben gezogen hatte. Nun denn, Gas geben konnte er und der Laster hatte einen PS-starken Motor. Igor grinste und seine freie Hand fiel dreimal schwer auf die Hupe.

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