ANA1-19 Transsibirische Eisenbahn

ANA1
Kategorie: Story Autor: ANirgends

Der Ausblick war unglaublich. Igor saß Tulcinea gegenüber im Speisewagen des Zuges, vor sich ein opulentes Mittagsmahl inkl. einem Glas erlesenen Rotweins, und genoss den Blick auf den Baikalsee, an dessen Ufer entlang sie sich gerade bewegten. Dem Schatten der Bäume nach zu urteilen fuhren sie Richtung Nordosten und der Zug hatte es der vielen Kurven wegen nicht eilig voranzukommen. Das Wasser glänzte im Sonnenlicht, von kleinen Wellen, die ein leichter Wind vor sich herzutreiben schien abgesehen. Und entlang des Ufers überboten sich die Bäume mit ihrer bunten Herbstpracht. Vermutlich ist der Herbst die beste Zeit zum Reisen, dachte Igor bei sich und gönnte sich genießerisch einen Schluck Rotwein, den Blick nicht von dem Szenario abwendend.
Tulcinea teilte seine Begeisterung für das Naturschauspiel.
„Im Winter legen sie Schienen auf dem Eis des Sees und sparen sich so den langen Umweg um den See“, behauptete Igor, um wieder ins Gespräch zu kommen.
„Was? Schienen auf dem See? Hält die Eisdecke das aus? Und ist das nicht zu viel Aufwand?“ fragte sie.
„Also sicher weiß ich das auch nicht. Aber ich habe das in Moskau schon öfters jemanden sagen hören. Und wir Russen sind ja Meister beim Improvisieren und Vereinfachen. Warum sollte es also nicht stimmen?“
„Ja, ihr Russen habt da schon eure Qualitäten. Nicht umsonst haben wir uns ja auch die Mühen gemacht und Dinge aus eurem Kosmodrome besorgt.“
Tulcinea legte ihr Besteck auf den Teller, wischte sorgfältig mit der Serviette über ihre Lippen und legte dann auch diese auf das abgelegte Besteck.
„Ich werde jetzt meine Runde durch den vorderen Zugteil machen. Kannst du Iwan die bestellte Flasche mitnehmen?“ Mit diesen Worten überreichte sie Igor eine Papiertüte mit Inhalt.
„Mach ich. Viel Spaß auf deiner Runde. Ehrlich gesagt verstehe ich dieses Übermaß an Vorsicht nicht. Aber wer bin ich, dass ich versuche dir etwas zu sagen.“
Igor brummelte noch irgendetwas Unverständliches in seinen Bart hinein und widmete sich mit voller Konzentration wieder dem Mittagsteller.
Tulcinea stand auf, winkte zum Abschied und ging langsam in Fahrtrichtung durch den Speisewagen, ein paar Reisebekanntschaften zunickend.
Zum Abschluss gönnte Igor sich noch einen doppelten Wodka, den er ex trank, legte ein paar Rubelscheine auf den Tisch, griff nach der Papiertüte und machte sich seinerseits auf in Richtung Zug-Heck, wo sich am Ende des Zuges ‚ihr‘ Güterwagen befand.
Als er den letzten Schlafwagen vor den drei Güterwaggons betrat, sah er auf der anderen Seite des Waggons eine Frau mit fülliger Frisur und Sonnenbrille eilig in der Toilette verschwinden. Etwas missbilligend die hat es aber mächtig eilig mit ihrem Geschäft denkend, ging er durch das Abteil, um sich anschließend durch die Güterwaggons zu bewegen. Diese waren mit Paketen und Sperrgut aller Art beladen, aber man kam gut hindurch, weil alles sehr gut gestapelt war. Voraussetzung zum Passieren war, dass man einen Schlüssel hatte, welche nur an die wenigen Personen ausgegeben worden waren, die hier etwas zu suchen hatten. Igor und Iwan hatten solche Schlüssel.
Für Igor überraschend war der Waggon nicht versperrt, was so gar nicht den Vorschriften entsprach und auf der bisherigen Reise nie vorgekommen war. Igor wurde etwas stutzig, ging aber ansonsten guter Dinge weiter.
Als er allerdings die ebenfalls unversperrte Tür zum letzten, also ‚ihrem‘ Waggon öffnete, war er sofort alarmiert und schockiert. Iwan lag tödlich getroffen in einer Blutlache am Boden. Zumindest drei rote Flecken auf der Brust zeugten von Einschüssen. Gerade als er eingetreten war, hatte sich Benno an den am Boden liegenden Körper geschmiegt und leckte Iwan mit seiner Zunge über das Gesicht. Igor eilte hin und wollte sich sofort über ihn beugen, um zu prüfen, ob er noch lebte, aber Benno richtete sich knurrend auf und bedeutete ihm zur Tür zu gehen und nach der Frau, die auf Iwan geschossen hatte, zu suchen.
Bennos Aufforderung war so eindeutig, dass Igor davon abließ erste Hilfe zu leisten und er sich durch die Tür stolpernd auf die Suche und Verfolgung der Täterin machte.
Seine Erinnerung setzte ein und er begann ganz schnell die beiden Frachtwaggons zu durchschreiten, um zur Toilette des letzten Schlafwagens zu kommen. So schnell es geht, ich muss dort hin. Da ist die Frau drinnen, welche auf Iwan geschossen hat … ich erwisch sie noch. Ganz sicher. Igors Gedanken überstürzten sich und alles drehte sich um die Frau mit den schwarzen Haaren und der Sonnenbrille. Die Toilette war offen und am Boden lagen eine schwarze Perücke und eine Sonnenbrille, sowie eine rote Strickweste. So ein Mist, dachte Igor und stürzte weiter im Zug nach vorne, um eine Spur von der Frau zu entdecken.
Erst als er in einem der vordersten Abteile auf Tulcinea stieß, gab er seine vergebliche Suche auf und umarmte Tulcinea tief schluchzend.
„Du musst sehr stark sein“, sagte er zu ihr, nahm sie bei der Hand und führte sie zitternd in seine Schlafkabine, die nicht weit weg war.
Tulcinea folgte ihm still und alarmiert.
Igor erzählte im Stakkato seine Geschichte und erwähnte mehrmals, dass Iwan jetzt tot war. Tulcinea war sehr gefasst, ging auf Iwans Tod nicht ein, sondern fragte nach Details zu der unbekannten Frau, welche Igor aber nicht liefern konnte.
„Das ist sehr schlimm Igor. Wir müssen diese Frau finden, sonst ist unsere Mission gescheitert.“
„Was machen wir mit Iwan? Womöglich ist er doch noch ein wenig am Leben. Wenn wir uns beeilen und ihm helfen?“
„Warum bist du weggegangen?“
„Benno hat mich beauftragt die Frau zu verfolgen.“
„Da hatte er recht. Schade, dass sie entkommen konnte. Ich muss zu Benno. Bleib du im Speisewagen und halte Ausschau nach der Frau. Benachrichtige mich, wenn dir etwas verdächtig vorkommt“ befahl Tulcinea und verließ Igors Schlafkabine.
Zurück blieb ein total verwirrter Igor, in dessen Kopf wieder jede Menge neuer Fragezeichen herumschwirrten.
Wie konnte ihm Benno so klare Anweisungen geben?
War Benno nicht ein Hirtenhund?
Aber Igor hätte seine Leber dafür verwettet, dass er von Benno mit einem Auftrag weggeschickt worden war.
Und warum war Tulcinea so gleichgültig bezüglich Iwans Leben? Zählte ein Leben für sie so wenig? Schaudernd erinnerte sich Igor an die Blicke, welche Tulcinea und Iwan austauschten, als er - Igor – schwer verwundet im Wald nahe Luhansk gelegen war.
Igor hatte das Gefühl, mehr und mehr den Bezug zur Realität zu verlieren.
Langsam ging er, immer noch zitternd, zurück ins Restaurant, setzte sich auf den Platz, wo er kurz vorher noch sein Mittagessen genossen hatte, bestellte zwei doppelte Wodka und starrte mit leerem Blick auf die märchenhafte Herbstlandschaft am Rande des Baikalsees.

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